Die Box-Welt giert nach dem wahren König (2024)

Vitali und Wladimir Klitschko teilten die WM-Titel im Schwergewicht jahrelang unter sich auf. Weil die Brüder aber nie gegeneinander kämpften, wartet die Boxwelt seit mehr als zwei Dekaden auf einen unumstrittenen König. Das dürfte sich im Frühjahr ändern.

Viel ist von Tyson Furys letztem Faustkampf nicht hängen geblieben. Außer vielleicht in Hirn und Knochen von Dereck Chisora. Den hatte der Schwergewichts-Weltmeister am dritten Dezember-Abend des Vorjahres in London zehn Runden lang nach Belieben verdroschen - eine sportlich wertlose Demontage. Aber das interessierte schon Minuten nach Verkündung des Urteils "T.K.o." keinen mehr.

"Wo ist Usyk, wo ist der Hase?", bellte "Gypsy King" Fury unter dem Jubel seiner 60.000 Box-Untertanen im Tottenham-Stadion in die Londoner Winterluft. Und Oleksandr Usyk, für die Show extra angereist, ließ sich nicht lange bitten. Der Ukrainer kletterte für einen ersten "Staredown" mit Fury an den Ring. Seelenruhig starrte er den 2,06-Meter-Riesen an und zeigte kurz seine Zahnlücke, während ihm Fury eine Beleidigung nach der anderen ins Gesicht plärrte. Auch Furys Landsmann Joe Joyce, der beim Schau-mir-in-die-Augen der Schwergewichts-Champions völlig unpassend dazwischen funkte, brachte Usyk nicht aus der Contenance. Umgeben von zwei johlenden Engländern nahm der Gast erst einen Telefonanruf entgegen, knipste mit Fury ein Ring-Selfie und verschwand wieder. Die Botschaft indes war klar: Meinetwegen kann der dicke Brocken kommen.

Das also ist es, was von Tyson Furys letztem Auftritt hängen geblieben ist: die Ouvertüre für einen der größten Kämpfe der jüngeren Boxgeschichte. Denn dass sich das Duell der ungeschlagenen Weltmeister Fury (Bilanz: 33 Siege, 1 Remis) und Usyk (20 Siege) bald auch zwischen den Ringseilen manifestiert, daran gibt es eigentlich keine Zweifel mehr. "Der Kampf kommt - hundertprozentig", sagt Box-Experte Bernd Bönte im Gespräch mit RTL/ntv. Das Gefecht um die unumstrittene Schwergewichts-Weltmeisterschaft sei für alle Beteiligten viel zu verlockend, schließlich stünden die Titel aller weltweit anerkannten Boxverbände auf dem Spiel. Fury trägt den WBC-Gürtel, Usyk die von WBA, WBO und IBF. Zum ersten Mal seit 1999, seit dem großen Lennox Lewis, könnte ein Boxer die zersplitterte Krone wieder zusammen- und sich aufs Haupt setzen (zu Lewis-Zeiten noch ein Dreizack von WBA, WBC und IBF).

"Extrem prestigeträchtiges Investment für die Saudis"

"Wir haben ihnen (dem Team Usyks, d.Red.) einen Vertragsentwurf zugeschickt, das ist der Stand", sagte Furys britischer Promoter Frank Warren am Wochenende beim Radiosender "talkSPORT". Die Zeit dränge, letzte Details müssten zügig geklärt werden, damit der Kampf wie geplant im März stattfinden könne. Der 4. März gilt gemeinhin als Wunschtermin beider Lager. Offen ist nur noch, wann und wo sich das Ganze abspielt. Bönte rechnet mit einem Cash-Spektakel im Nahen Osten, wahrscheinlich in Saudi-Arabien, wo Usyk im vergangenen Sommer Anthony Joshua ein zweites Mal bezwungen hatte. "Angesichts eines solch globalen Mega-Events sind die kolportierten Summen von 100 Millionen Dollar plus x Austragungsgebühr für die Saudis Peanuts. Die ganze Sportwelt wird zuschauen, und somit ist es für die Saudis ein extrem prestigeträchtiges Investment", sagte der langjährige Manager der Klitschko-Brüder. Sollte Saudi-Arabien die Lust an dem Box-Showdown vergehen, würden schon die Vereinigten Arabischen Emirate, an erster Stelle Abu Dhabi, mit den Dollar-Scheinen winken.

Warren macht keinen Hehl daraus, dass der Kampf dort über die Bühne gehen wird, "wo das meiste Geld herkommt". Und da spricht in der Tat viel für Saudi-Arabien. Das Königshaus hatte sich bereits 2021 mit einer 150-Millionen-Dollar-Keule das Austragungsrecht für den damals angedachten Kampf der englischen Superstars Fury und Joshua gesichert. Nur ein Schiedsgericht in den USA, das Fury zu einem dritten Duell mit Erzrivale Deontay Wilder verdonnerte, durchkreuzte den Plan.

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"Ich weiß, dass sich viele Leute darüber beklagen. Ich sage auch, dass es in Wembley sein sollte", räumte Warren mit Blick auf den umstrittenen Schauplatz (Stichwort: Sportswashing) für die Schwergewichts-Zeremonie ein. Der 70-Jährige erinnerte allerdings daran, dass Fury gegen Usyk nicht die erste Box-WM auf totalitärem Terrain wäre. "Muhammad Ali und George Foreman kämpften in Zaire, dann gab es den Thrilla in Manila (Ali gegen Joe Frazier III auf den Philippinen 1975, d.Red.). Sie sind dorthin gegangen, wo es das meiste Geld gab und das werden die zwei auch tun." Geld zu verdienen, gibt es für Fury und Usyk allemal. Neben der dreistelligen Millionensumme, die als Austragungsgebühr im Raum steht, dürften Pay-per-View-Einnahmen und Ticketverkauf die Kasse klingeln lassen. Unterm Strich könnten die Boxer an die 100 Millionen Dollar kassieren. Sportlich reizt der Ruhm, im Boxen König der Könige zu sein - oder der "große Zeh Gottes", wie der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer den Schwergewichts-Weltmeister einst nannte.

Ein boxerischer Leckerbissen

Rein boxerisch betrachtet, ist der Kampf des (Früh-)Jahres ein Leckerbissen: Auf der einen Seite Fury, 34 Jahre, 2,06 Meter riesig, ein Mann der vielen Stile, der seit seiner Zusammenarbeit mit Trainer Sugar Hill Steward an Schlagkraft zugelegt hat. Auf der anderen Seite der 16 Zentimeter kleinere Usyk, 35, ein in sich ruhende Edeltechniker mit brillanter Beinarbeit, Rechtsausleger, konditionell gefühlt immer für 20 Runden gerüstet.

Bernd Bönte sieht Fury, der 2015 die Regentschaft Wladimir Klitschkos beendete, in der Favoritenrolle. "Die alte Box-Weisheit besagt, dass der gute große den guten kleinen Boxer schlägt", so der Faustkampf-Kenner. Bönte kommentierte den ersten Kampf im Legende-Zweiteiler zwischen Lennox Lewis (1,96 Meter) über Evander Holyfield (1,88 Meter) im "Undisputed"-Showdown 1999 live am Ring. Ein empirischer Beweis für die Groß-Klein-These. Aber: "Usyk hat bis jetzt gegen jeden Gegner immer Lösungen gefunden. Gegen Fury müsste er immer wieder auf schnellen Beinen aus der Distanz rein in den Mann, Kombinationen anbringen und sofort wieder raus. Stick and Move, wie die Amerikaner sagen. Spannend zu sehen, ob ihm das gelingt."

Entschlüsselt Usyk auch den Fury-Code, würde er sich weit über die Ukraine hinaus ein Denkmal setzen. Er wäre der erste Boxer seit dem legendären Holyfield, der erst im Cruiser- und dann im Schwergewicht alle WM-Titel vereint. Fury andererseits würde mit einem Erfolg den Status als bester Schwergewichtler seiner Generation zementieren.

Neben dem Kampf um die Nummer eins könnte der Boxwelt 2023 ein weiteres dickes Ding blühen. Deontay Wilders Manager Shelly Finkel und Joshua-Promoter Eddie Hearn ließen unisono verlauten, wieder einen heißen Draht über den Atlantik herzustellen. Joshua vs. Wilder - über den britisch-amerikanischen Clash der stärksten Puncher wurde oft schon verhandelt, das explosive Duell hätte eigentlich schon vor Jahren stattfinden sollen. Wegen der K.-o.-Power und der Vermarktbarkeit der Ex-Weltmeister würde es wohl ähnliche Dimensionen annehmen, wie Fury gegen Usyk.

Hearn arbeitet an spektakulärem Drei-Kämpfe-Plan

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Hearn breitete zuletzt bei DAZN einen Drei-Kämpfe-Plan für seinen Protegé aus, um "AJ" wieder "aufzubauen". Im Frühjahr solle Joshua zunächst gegen einen Mann aus den "Top 15" sein Comeback geben, im Sommer dann seinen alten englischen Rivalen Dillian Whyte, im Herbst schließlich Wilder boxen. Er glaube auch, dass der Ende 2022 geplatzte Briten Blockbuster zwischen Fury und Joshua irgendwann noch kommen werde, so Hearn. Dafür aber muss Joshua nach seinen Pleiten gegen Usyk erst einmal wieder in die Spur kommen.

Und Deontay Wilder? Der "Bronze Bomber" ist nach seinem Blitz-K.o. gegen Robert Helenius im vergangenen Oktober wieder voll im Geschäft. Der Weltverband WBC hat eine WM-Ausscheidung zwischen Wilder und Joshua-Bezwinger Andy Ruiz angeordnet. Ein Fight der amerikanischen Ex-Champions - zumindest in den USA ein Kassenschlager. Gewinnt Wilder, hätte er neben der sportlich wie finanziell lukrativen Option Joshua noch das Recht auf ein viertes Ring-Rendezvous mit Fury. Der hat sein Interesse bereits signalisiert. Viel Zukunftsmusik. Erst einmal gilt es, einen König zu krönen. Möglicherweise der Start für ein spektakuläres Jahr im Schwergewichts-Boxen.

(Dieser Artikel wurde am Montag, 09. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)

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